Entrée Indian
Jyotisha ज्योतिष, die indische Astrologie, ist dezidiert im Kontext zu den vedischen Schriften zu sehen, jenen ganz prinzipiell implizit und wie e.g. Ayurveda आयुर्वेद eine hochrelevante, spirituelle Teildisziplin des Hinduismus.
Hinduistische Lehren erscheinen so manchem westlichem Denker wesensfremd, schwer zugänglich bis nicht ernstzunehmend aufgrund einer so empfundenen hochgradig skurrilen bis grotesken Wirrnis aus Anachronismen und Determinismen, fatalistischem Aberglauben sowie irrationalen Paradoxien. Und so ist der Jyotish auch nicht wenigen „modernen“ Astrologen der westlichen Hemisphäre suspekt: Welten prallen aufeinander.
Es sei an dieser Stelle marginal erwähnt, daß abgrenzende Mechanismen ein zweifelsohne weltweites, da entgegen allen anderslautenden Postulaten sehr wohl im Metaphysischen gründendes und durchaus notwendiges Phänomen darstellen – sich jedoch im Erstreben ganzheitlicher Erkenntnis nicht zwingend horizonterweiternd zeitigen. Es gilt ein weiteres Mal, abzuwägen.
Während sich nun im Hinduistischen mehr noch als in anderen Religionen ungemeine religiöse Vielfalt artikuliert, kann dem Jyotish trotz einer nicht enden wollenden Flut von Sutren eine in den Veden gründende gewisse Geradlinigkeit attestiert werden. Doch wie jede komplexe Lehre offenbart auch der Jyotish nicht bei eiliger, oberflächlicher und von Vorurteilen geprägter Betrachtung, sondern erst nach langjährigen Studien seine wirkliche Tiefe, seine Schönheit, Weisheit und Wahrheit – entwickelt jedoch gleichsam seine Abgründe, sein Grauen und seine Dämonie.

सत्यमेव जयते
Wie es in den traditionellen chinesischen Wissenschaften hilfreich ist, als Chinese auf Taiwan geboren zu sein, um ihre komplexen Potentiale von klein auf in originärem Ambiente zu verinnerlichen, so ist es auch im Jyotish nicht von Schaden, in ein hinduistisches Umfeld geboren zu werden. Doch ist dies kein Muß. Sofern Interesse und Offenheit für fernöstliche Spiritualität, Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit sowie (nicht unwichtig) Ausdauer und ein gutes Langzeitgedächtnis (!) zu den Charakteristika des Studierenden zählen, muß man nicht nativer Hindu sein, um indische Astrologie und mithin die Dinge zu verstehen.
Wie an sich jedes astrologische System verfügt der Jyotish über beachtliche Ressourcen, um die Erscheinungen der Seinsebene im weitgehend holistischen Sinne zu erfassen, wobei besonders die dunklen Potentiale mit weitem Abstand klarer definiert werden als in psychologisierenden und relativierenden Systemen westhemisphärischer Neuzeit.
Es ist sehr wesentlich, daß die Betrachtungen des Jyotish auf den siderischen Zodiac bezogen werden, ohne jedoch die tropische Komponente außer Acht zu lassen (der sogenannte „Hindu-Kalender“ ist ein Lunisolar-Kalender). 1 Es ist desweiteren sehr wesentlich, daß in der astrologischen Gewichtung des Jyotish nicht die Sonne सूर्य (sūrya), sondern der Mond चन्द्र (chandra) höchste Priorität genießt.
Weil sich die allein in Indien भारत (Bhārat) 2 gesprochenen Sprachen in vier Sprachfamilien, weit über hundert Sprachen per se und noch viel mehr Dialekte differenzieren, desweiteren sich im Hinduistischen sehr viele Orientierungen zeitigen und darüber hinaus reichlich Synonyma, Synekdocha et cetera in die Nomenklatur einfließen, bestehen in der Tat schwer überschaubare Terminologien zur Thematik. Wir beziehen uns in der Hoffnung auf bestmöglichste Authentizität auf die in den Übertragungen zum Jyotish einigermaßen gängigen Benennungen.
Indes ist es unzutreffend, in der Begriffsvielfalt des Hinduistischen nun heillose Verwirrung per se oder in eurozentrischer Arroganz die Unfähigkeit „strukturierten Denkens“ schlechthin zu sehen. Bspw. in den Avatara Vishnus werden verschiedene zum jeweiligen Zeitpunkte zum Ausdruck gebrachte Wesensbestandteile formuliert. Wem das schon zu unübersichtlich sein sollte, der leidet an stark eindimensionalem Wahrnehmungswillen oder -fähigkeit hinsichtlich der vielhaften Artikulationen der Seinsebene: Eben diese finden in den hinduistischen Begriffen ihre Wiedergabe, und in diesem Verständnis verwundern auch die jeweils 1000 Namen Vishnus विष्णु und Shivas शिव des Mahabharata u. dgl. nicht. 3
Im Rahmen dieser Seiten wollen wir zunächst mit einer tabellarischen Zusammenstellung der dem Jyotish inhärenten grundlegenden Zuordnungen, Affinitäten und Methoden einleiten, um im weiteren Verlauf die Tiefen dieser fürwahr grandiosen Astrologie intensiver auszuloten. Unsere Jyotihshastra Library bietet hierfür in einer Auswahl der relevantesten Grundlagenwerke zum Jyotish reichhaltige Möglichkeiten.
Wir empfehlen die wiederholte Lektüre der Tabellarien, welche mit Sorgfalt und Akribie erarbeitet wurden und deren angeführte Zuordnungen in weiten Bereichen unstrittig sind. Bestehen gravierend unterschiedliche Interpretationen zum einen oder anderen relevanten Thema, so sind wir bemüht, dies explizit zu vermerken. Als Maxime zu sehen, wird auf allzu spekulativ-nebulöse Abstrahierungen auf diesen Seiten nicht eingegangen.
Zur historischen Entwicklung der Astrologie, den gegen- bzw. wechselseitigen kulturellen Einflüssen und Interaktionen über die Jahrtausende sowie den daraus resultierenden systematischen Kongruenzen, Parallelen, Analogien, Similaritäten, Kontiguitäten, Disgruenzen und Differenzen wird an anderer Stelle eingegangen werden.
A priori
Zum Jyotish nun vorab einige wichtige Begriffsdefinitionen:
Elementare Termini
▶ Veda (Sanskrit, masculinum, वेद, veda) ▷ „Wissen, Heiliges Gesetz“; DIE autoritativen religiösen Texte des Hinduismus
▶ Vedanga (Sanskrit, neutrum, वेदाङ्ग, vedāṅga) ▷ „Glied des Veda“; Hilfswissenschaft(en) der Veden
▶ Jyotisha (Sanskrit, masculinum, ज्योतिष, jyotiṣa; auch वैदिक ज्योतिष vaidika jyotiṣa ▷ „Auge der Veden“
▶ Panchang (Sanskrit, masculinum, पंचांग, paṅcāṅga; auch हिन्दू पंचांग hindu paṅcāṅga) ▷ „Hindu-Kalender“
▶ Nirayana (Sanskrit, neutrum, निरयन) ▷ siderischer Zodiac
▶ Sāyana (Sanskrit, neutrum, सायन) ▷ tropischer Zodiac
▶ Horāpāṭhaka (Sanskrit, masculinum, होरपाठक) ▷ (indischer) Astrologe
Die Vedanga umfassen folgende Teildisziplinen:
1. Shiksha (शिक्षा, śikṣā): Phonetik, Kenntnis der Buchstaben, Artikulation, Sandhiregeln
2. Chandas (छन्दस्, chandas): Metrik
3. Vyakarana (व्याकरण, vyākaraṇa): Grammatik
4. Nirukta (निरुक्त, nirukta): Etymologie, Erklärung wichtiger vedischer Wörter
5. Jyotisha (ज्योतिष, jyotiṣa): Astronomie & Astrologie, Kenntnis des vedischen Kalenders
6. Kalpa (कल्प, kalpa): Ritual
https://en.wikipedia.org/wiki/Veda | https://de.wikipedia.org/wiki/Veda
https://en.wikipedia.org/wiki/Vedanga | https://de.wikipedia.org/wiki/Vedangas
https://en.wikipedia.org/wiki/Jyotisha | https://de.wikipedia.org/wiki/Jyotisha
Last, but not least noch zwei Dinge:
- Viele bekämpfen das hier Vorgelegte, obwohl sie vorgeben, „Wahrheit“ zu suchen.
- Fürchten Sie nicht, „schlafende Hunde zu wecken“. Die sind schon wach. Hunde schlafen nie so richtig.
ओम् तत् सत्
CR, in 2009/2010
Überarbeitung I zum 10./11.09.2016
Überarbeitung II in 06/07 2022
अर्थार्जने सहायः पुरुषाणमापदर्णवे पोतः ।
यात्राकाले मन्त्री जातकमपहाय नास्यपरः ॥ २॥
“There is nothing in the world like a horoscope to help men in the acquisition of wealth,
to save them like a boat in a sea of troubles and to serve them as a guide in their journeys.”
Jataka Parijata | Adhyaya XVI | Sloka 2
ओम् तत् सत्
Fußnoten
1. ↑ Es existieren mehrere indische Kalendersysteme.
2. ↑ Es sei darauf hingewiesen, daß „Indien“ in „Indien“ nicht „Indien“ genannt wird – ebenso wenig, wie „China“ landessprachlich mit „China“ bezeichnet wird. Jener in weiten Teilen der Welt selbstverständliche Terminus „Indien“ resp. „India“ wurde dem durch das Land fließenden Strome „Indus“ entlehnt und entfaltete so seine weltweite Verbreitung. Der originäre und im Mutterlande an allen Orten vernehmbare Landesname „Indiens“ lautet „Bhārat“ भारत, sich etymologisch beziehend auf das altindische Herrschergeschlecht der Bhārata bzw. das berühmte Sanskrit-Epos Mahābhārata महाभारत. Der offizielle Landesname lautet „Bhārat Gaṇarājya“ भारत गणराज्य, was mit „Republik Indien“ mehr schlecht als recht wiedergegeben wird.
Zur Rubrik „indischer“ Irrungen und Wirrungen sei in Süffisanz noch vermerkt, daß Kolumbus bekanntlich einstens nicht „Indien“ erreichte, sondern das heutige Amerika und deswegen die sogenannten „Indianer“ eher weniger mit „Indien“ zu tun haben.
3. ↑ Kate Bush versuchte auf anderer Ebene, dies in ihren „50 Words for Snow“ zu verdeutlichen. Inwieweit das seitens grobmotorischer Fraktion verstanden wurde, ist eine andere Frage.